Ist auch in Deutschland die Idee einer „positiven Zukunft“ möglich?

Wir eröffnen die Diskussion mit einem Bericht über ein alternatives Kita-Konzept, der an die vorliegenden Ausführungen zu diesem Thema anknüpft ("Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“). Dort hieß es zur Frage, ob die Vorstellung einer positiven Zukunft auch in Deutschland möglich sei:

Das setze jedoch voraus, dass man es mit „kritischen Geistern“ zu tun habe, die gelernt hätten, in „Hypothesen und Antithesen“ zu denken und sich - „gedankliche Pirouetten“ drehend - auch mal selbst zu widerlegen. Das sei durchaus erreichbar, wenn nicht immer nur „eine ‚richtige‘ Antwort gelernt und abgefragt“ werde. Und sie staunt: „Faszinierend, was unser Gehirn alles spielerisch lernen kann – wenn man das übt.“

Vor allem der Rückgriff auf die Lernfähigkeiten des Gehirns hat unsere diesbezügliche Neugier geweckt. Denn obwohl Gaub davon ausgeht, dass gerade diese Fähigkeiten in der Schule nicht zum Tragen kommen (so jedenfalls in ihrem angegebenen Buch, S. 26), existieren durchaus pädagogische Konzepte, die gerade hierauf besonderen Wert legen - und eines von ihnen wollen wir hier vorstellen.

Großtagespflege für Kinder ab 1 Jahr -
oder
Was wir von einem alternativen Kita-Konzept lernen können

Wohl jeder Mensch, der Kinder hat, wird diese als das Wertvollste bezeichnen, das sein Leben bestimmt. Wir starten deshalb diese Reihe mit der Betrachtung eines erfolgreichen Alternativkonzepts frühkindlicher Betreuung. Solche Konzepte, die aus dem allgemeinen Rahmen heraus fallen und die sich in Teilen von den traditionellen Betreuungsmodellen verabschiedet haben, finden sich z. B. in Natur-Kitas, Bewegungs-Kitas, Bilingual-Kitas, Inklusive Kitas sowie in Reggio-Kitas.

Das Konzept der Kreativitätsschule Bergisch Gladbach e. V.

Im Folgenden stellen wir das Konzept der Kreativitätsschule Bergisch Gladbach e. V. vor, einer Einrichtung der kulturellen Kinder- und Jugendbildung, die neben der eigentlichen Kreativitätsschule auch noch einen Jugendclub sowie das hier vorgestellte Betreuungsmodell der Großtagespflege betreibt. Hierunter versteht man ein Betreuungsangebot in einer überschaubaren Gruppe von sechs bis maximal neun Kindern, die von zwei bis maximal drei festen Bezugspersonen betreut werden. Die Qualifikation der Betreuungspersonen ist gesetzlich geregelt, jedoch gibt es dieses Modell nicht in allen Bundesländern.

Die Kreativitätsschule in Bergisch Gladbach hat sich ganz dem pädagogischen Ansatz der italienischen Reggio-Pädagogik verschrieben. In ihr stehen Eigeninitiative, Kreativität und die Selbstbildung der Kinder im Mittelpunkt. Sie bezieht sich dabei explizit auf Erkenntnisse aus Pädagogik, Entwicklungspsychologie, Neurobiologie und Kreativitätsforschung und folgt damit dem Bild des kompetenten Kindes, das besagt, dass bereits in der frühen Kindheit die Fundamente für die weitere Entwicklung aller angeborenen Fähigkeiten gelegt werden.

Mit dieser Sichtweise hat sich auch der Blick aufs Lernen radikal gewandelt. Das traditionelle Bild vom Lernen als Resultat von Lehren und Üben ist dem Konzept der aktiven Auseinandersetzung mit der gegenständlichen und sozialen Realität gewichen. Der Schlüssel zur geistigen Entwicklung wird jetzt nicht im Einüben isolierter Fertigkeiten gesehen, sondern als konstruktiver, kreativer Prozess der Selbstbildung, der das Denken immer wieder neu vor Probleme stellt.

Dem begegnet das Kind mit grenzenloser Offenheit und Neugier, die es befähigen, komplexe Sachverhalte auch ohne systematische Unterweisung zu analysieren, sich anzueignen und für sich nutzbar zu machen. Es ist Akteur seiner eigenen Entwicklung, immer bemüht, sich selbstständig den aktuellen Herausforderungen zu stellen und so sukzessive seine Handlungskompetenzen zu erweitern.

Daraus ergibt sich für Bezugspersonen die Aufgabe, eine Atmosphäre zu schaffen, die die Intelligenzentwicklung der Kinder unterstützt, indem sie deren natürliche Lust am Entdecken und Forschen in den Mittelpunkt stellen. Sie sollen sich als Lernassistenz verstehen, die die Kinder auf ihren Wegen des Forschens, Lernens und selbstbestimmten Gestaltens begleitet und deren vorrangiges „Werkzeug“ die teilnehmende Beobachtung und Dokumentation ist.

Dabei sollen sich Bezugspersonen jederzeit den vielfältigen Fähigkeiten und Möglichkeiten der Kinder bewusst sein. Sie sollen vergegenwärtigen, dass alles Handeln der Kinder ihre je individuelle Methode ist, neue und sinnvolle Antworten auf die Herausforderungen des Lebens zu finden und ihre individuellen Eindrücke authentisch zum Ausdruck zu bringen.

Hierzu bedarf es eines grundlegenden Interesses für das, was Kinder in ihrem Leben bewegt sowie der Bereitschaft und Fähigkeit, die Signale der Kinder aufzunehmen. Auf der anderen Seite sollen Bezugspersonen sich aber auch selbst als Lernende verstehen, die gemeinsam mit den Kindern neugierig die Dinge der Welt erforschen möchten.

Im Einzelnen nennt die Kreativitätsschule folgende Anforderungen an das pädagogische Personal:

Es hört den Kindern aufmerksam und aktiv zu.
Es bietet sich als Echo und Resonanzkörper an für die Empfindungs- und Handlungsweisen der Kinder.
Es unterstützt die experimentelle und forschende Haltung der Kinder und entfacht so das Feuer der Neugierde.
Es fördert neue Erfahrungen, Herausforderungen, Fragestellungen, Gedanken, Ausdrucksmöglichkeiten und Experimentierfreude der Kinder.
Es regt die Arbeitsprozesse der Kinder untereinander an, organisiert ihre Arbeitsprozesse und strukturiert und dokumentiert sie.
Es ermutigt Kinder, ihre eigenen Quellen sprudeln zu lassen und vermittelt ihnen die Erfahrung, Schöpfer ihres eigenen Wissens zu sein (Prinzip der Selbstwirksamkeit).
Deshalb soll es über eigene künstlerische Erfahrung verfügen.

Als Richtschnur für die tägliche Arbeit nennt die Kreativitätsschule folgende Maximen:

Die Kinder sollen jeden neuen Tag mit Freude erwarten, weil sie wissen, dass sie ernst genommen, individuell und liebevoll betreut werden.
Die Kinder sollen kreativ sein können, eigenen Ideen nachgehen und an verschiedene künstlerische Medien herangeführt werden.
Die Kinder sollen ihre sozialen Fähigkeiten weiter entwickeln, Freunde haben und positive Wirkungsmöglichkeiten innerhalb des Zusammenlebens wahrnehmen.

Pädagogische Praxis

Organisation
Die Großtagespflege bietet eine ganztägige Betreuung in familiärer Atmosphäre für neun Kinder im Alter von ein bis drei Jahren und ist mit zweieinhalb pädagogischen Fachkraftstellen angemessen besetzt. Das Team der Großtagespflege ist täglich von 8:00 Uhr bis 15:00 Uhr für die Kinder da. Bis 16.00 Uhr werden die Kinder abgeholt.

Tagesablauf
Der Tagesablauf ist strukturiert und von Ritualen begleitet, die den Kindern Orientierung geben. Gleichzeitig gibt es genügend Spielraum für individuelle Bedürfnisse. Zwischen 7:30 und 9:00 Uhr werden die Kinder und ihre Eltern begrüßt und in Empfang genommen. Um 9:00 Uhr startet der Tag mit einem gemeinsamen Lied. Während eines kleinen Frühstücks entscheiden die Kinder selbst, was sie tun möchten und finden sich hernach zu kleinen Gruppen zusammen. Hier beschäftigen sie sich mit den für sie spannenden Themen. Nach dem Mittagessen gibt es eine Ruhephase. Essens- und Schlafgewohnheiten werden in ständiger Absprache mit den Eltern individuell festgesetzt, damit sich jedes Kind in der Einrichtung zu Hause fühlt. Der Nachmittag beginnt mit einem kleinen Snack. Danach haben die Kinder die Möglichkeit, ins Freie zu gehen oder das Spiel vom Vormittag fortzusetzen.

Betreuungsdesign
Im Mittelpunkt der Betreuung steht das Spielen und Lernen in einem kreativen Ambiente, das die Lust am Entdecken und Forschen fördern möchte. Aus diesem Grund steht eine große Zahl der verschiedensten künstlerischen Medien und Materialien zur Verfügung, die neben der Förderung der kreativen Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit auch eine Förderung des sozialen Verhaltens leisten soll. Die Kinder lernen den Umgang mit Pinsel, Farben und Papier, gestalten Dinge mit Ton, Holz, Stein und Pappmaché, machen sich mit musikalischen und rhythmischen Ausdrucksformen vertraut und erproben die Ausdrucksmöglichkeiten ihres Körpers beim Tanz und Theaterspiel.

Die Eingewöhnung der Kinder
Basis jeder Kreativität ist ein Gefühl emotionaler Sicherheit. Weil Anfangssituationen in einer fremden Umgebung Stress auslösen können, sollen die Kinder bei ihrer Eingewöhnung von ihrer Bezugsperson begleitet werden. Hierbei werden die Kinder nach und nach mit den neuen Bezugspersonen, den Räumen und auch mit den Spielmaterialien vertraut. Gleichzeitig wird so ein besonderes Vertrauensverhältnis des Personals zu den Eltern aufgebaut. Nach dieser professionell gestalteten Eingewöhnungszeit steht dann die liebevolle Zuwendung und intensive Begegnung sowie die individuelle, ganzheitliche Förderung im Vordergrund – immer begleitet durch die gemeinsam gestaltete Kommunikation.

Der Raum als dritter Erzieher
Der Raum hat einen enormen Einfluss auf die kindlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Er soll nicht nur ein bewegliches und produktives Denken und Handeln fördern, sondern in seiner Gestaltung auch pädagogische Grundhaltungen wie Transparenz, Kommunikation und konstruktive Unruhe widerspiegeln. Außerdem soll er Raum bieten für das Experimentelle. Hierzu soll er in bewusst ästhetischer Gestaltung – angereichert mit vielfältigen Medien und Materialien - auf die Forschungsbedürfnisse der Kinder ausgerichtet sein. Im Modus des Forschens, Experimentierens und Begreifens soll die persönliche, soziale und kognitive Entwicklung der Kinder gefördert werden. Das setzt voraus, dass der Gruppenraum nicht nur Materialien und Medien zum „Entdecken der Welt“ enthält, sondern dass er sich zugleich auch als Spielraum für Bewegung, Austausch und soziales Miteinander eignet. Neben dem täglichen Spielen und Arbeiten im Freien gibt es deshalb auch so genannte Funktionsräume, z. B. als Schlaf- und Rückzugsmöglichkeit.

Küche und Kinderrestaurant
Besonders wichtige Funktionsräume sind die Küche und das Kinderrestaurant. Beides dient der Entwicklung einer guten und gesunden Esskultur. Das Essen wird täglich frisch vor Ort zubereitet. Die Kinder haben die Möglichkeit, ihr Geschmacksrepertoire zu erweitern und auch selbst mitzukochen. Der Tisch wird schön gedeckt und das Personal nimmt sich Zeit für gesellige Ausflüge in die Welt des Geschmacks.

Erziehungspartnerschaft mit Eltern
Das pädagogische Personal der Großtagespflege orientiert sich so weit es geht an den Bedürfnissen der Familien. Ziel ist es, eine Atmosphäre des gemeinsamen Vertrauens zu schaffen, in der gegenseitige Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen ernst genommen werden. Über den Elternrat wird der Dialog mit jedem Einzelnen gesucht und die Eltern so in laufende Arbeitsprozesse einbezogen. Die gesamte Arbeit soll durch Gespräche, Fotos und Dokumentationen transparent gemacht werden und die Eltern über die Entwicklung ihrer Kinder auf dem Laufenden bleiben, um deren Arbeitsweisen, Denkbewegungen, Vorstellungen und Gefühle nachvollziehen zu können.

Qualitätsmanagement
Das Team befindet sich in einem ständigen Prozess der Qualitätsentwicklung seiner Arbeit durch a) permanente Schulung und Supervision seiner Mitarbeiter/innen, durch b) den Fachaustausch mit anderen Einrichtungen und Gremien sowie durch c) die regelmäßige Kooperation mit psychologischen Fachkräften.

[Transparenzhinweis: Der Autor war jahrelang im Vorstand der Kreativitätsschule. Die Beschreibung der Großtagespflege folgt in groben Zügen der Darstellung auf der Website – www.kea-online.de]

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„Regierungen machen die Zukunft nicht allein. Es sind die Ideen und Vorschläge von Unternehmen und Einzelpersonen, die ganz genauso wichtig sind.“ (Florence Gaub)

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